Glück und Ethik

Hrsg. v. Joachim Schummer

Würzburg (Königshausen & Neumann) 1998

195 S. 23,5 cm. Kartoniert. 350gr. ISBN: 3-8260-1503-7 
38.00 DM - 277.00 öS - 35.30 sfr

INHALT 

Einführung

Glücksbegriffe
    GÜNTHER BIEN: Über das Glück 
Grenzen der Glücksphilosophie 
    GREGOR PAUL: Buddhistische Glücksvorstellungen. Eine historisch-systematische Skizze

    ANNEMARIE PIEPER: Utopische Glücksentwürfe

Glücksphilosophie als Lebenskunstlehre oder Strebensethik 
    WILHELM SCHMID: Lebenskunst als Ästhetik der Existenz 

    HANS KRÄMER: Integrative Ethik 

Glücksphilosophie als prä-moralische Theorie des Guten 
    MARTIN SEEL: Wege einer Philosophie des Glücks 

    DIETER BIRNBACHER Der Streit um die Lebensqualität

Glück und Moral
    MAXIMILIAN FORSCHNER: Über das Vernügen naturgemäßen Tuns. John Stuart Mills Konzept eines Lebens in Lust und Würde 

    MALTE HOSSENFELDER: Die Rolle des Glücksbegriffs in der Moralphilosophie. Das Vorbild der Antike


Joachim Schummer

Glück und Ethik

Neue Ansätze zur Rehabilitierung der Glücksphilosophie

(aus: Glück und Ethik, hrsg. v. Joachim Schummer, Würzburg, Königshausen & Neumann, 1998, S. 8-22)

1. Einleitung: Für eine Rehabilitierung der Glücksphilosophie

Alle Menschen streben nach Glück. Es dürfte schwierig sein, einen Philosophen zu benennen, der diesen Satz jemals ernsthaft bestritten hat. Auf der Basis eines solchen, fast einzigartigen und mehr als zweitausend Jahre haltenden philosophischen Konsenses, so möchte man meinen, konnte eine konstruktive Philosophie des Glücks gedeihen, die sich in der Ausgestaltung der Begriffe des Glücks und des Strebens differenzierte; eine Philosophie, die Antworten gibt auf die Fragen, ob bzw. auf welche Weise wir das jeweils erstrebte Glück erreichen können, und die sich kritisch analysierend zu den wohlfeilen Glücksangeboten verhält, welche uns Werbeagenturen, (Ersatz) Religionen und selbsternannte Seelenheiler aufdrängen; eine Philosophie, die uns beratend zur Seite stehen kann, wenn wir unsere Bedürfnisse, Lebenshaltungen, erwartungen und kontexte aufeinander abstimmen wollen.

Doch eine solche Philosophie gibt es heute nicht, oder besser: sie befindet sich erst wieder im Stadium einer Rehabilitierung, und sie knüpft dabei auffallend häufig an entsprechende Ansätze der griechischen Antike und Klassik an. Diese Renaissance-Bemühung entspringt jedoch weniger dem ahistorischen Geist der so benannten Epoche als vielmehr der historischen Einsicht, daß der glücksphilosophische Ertrag späterer Epochen relativ unbefriedigend ist. Die Gründe dafür liegen zumindest teilweise auf der Hand: Der Zeitraum ist überwiegend durch eine Arbeitsteilung gekennzeichnet, die jede das menschliche Glücksstreben betreffende Kompetenz der Domäne der Theologie zuwies. Philosophische Beiträge wurden oft nur als affirmative Kommentare eines dogmatisch verwalteten jenseitsorientierten Heilswissens zugelassen. Auf indirekte Weise nährt die einstige Arbeitsteilung noch heute den Widerstand gegen die philosophische Rehabilitierung des Glücksthemas. /8/ Denn es sind häufig die sich selber als besonders aufgeklärt verstehenden Philosophen, denen das Thema als anrüchig, theologie-verdächtig erscheint und die - mit einer bemerkenswerten Überschätzung philosophischer Autorität - hinter jeder philosophischen Ausformulierung des Glücksbegriffs eine paternalistische Bevormundung mündiger Bürger in einer pluralistischen Gesellschaft wittern. Hinzu kommt, daß die Säkularisierung der praktischen Philosophie (zumindest in Deutschland) in erster Linie als rationale Moralphilosophie und politische Philosophie gelang, die sich neutral oder zurückhaltend gegenüber dem individuellen Glück verhielt. Und in einer philosophischen Ethik, die sich einseitig als Moralphilosophie institutionalisierte, blieb für glücksphilosophische Fragen kein Platz mehr.

Eine zweite Arbeitsteilung konnte diesen Trend verstärken, nämlich die zwischen Philosophie und Psychologie. Denn wo Letztere in therapeutischer Gestalt die Aufgaben religiöser Seelsorge übernahm, baute sie auf alte philosophisch-anthropologische Grundlagen auf, die von erlösungsreligiösen Heilsmotiven noch frei waren. Angewandte Glücksphilosophie scheint heute eine Domäne der Psychotherapie geworden zu sein, an der nicht so sehr der mangelnde Schutz der Berufsbezeichnung, sondern die mangelnde Klarheit einer philosophisch-anthropologischen Fundierung zu beklagen ist. Man mag es als im schlechten Sinne 'philosophisch' bezeichnen, daß sich Schulen und Moden um den Alleinerklärungsanspruch streiten, ob menschliches Glück etwa libido-ökonomisch, sozial, kognitiv, hormonell, genetisch oder außerirdisch determiniert ist. Deutlich ist jedenfalls der Mangel an einer philosophisch-anthropologischen Integrationsarbeit; und dies gilt auch und gerade angesichts der Flut empirischen Materials, das Sozialwissenschaftler und Psychologen in den letzten Jahrzehnten aus Befragungen zusammengetragen haben [1]

Für eine Rehabilitierung der Glücksphilosophie spricht aber nicht nur deren existentielle Bedeutung im Hinblick auf ein zu erwartendes kritisches Orientierungspotential. Die Glücksthematik ist auch - allen philosophischen /9/ Abstinenzversuchen zum Trotze - zentral für jede normative Moralphilosophie; und dies in zweierlei Hinsicht:

Erstens bleibt unter motivationalen Gesichtspunkten jede Morallehre in dem Maße abstrakt bzw. in ihrer Umsetzung auf externe Zwänge (z.B. Androhung juristische Sanktionen oder jenseitiger Vergeltung) angewiesen, in dem sie mit menschlichem Glücksstreben disharmoniert. Weder rationale Struktur noch rationale Begründung moralischer Prinzipien enthalten für sich bereits motivationale Komponenten. [2] Moralphilosophische Ansätze müssen sich nolens volens auch daran messen lassen, wieweit sie dem menschlichen Glück förderlich oder hinderlich sind. Die Attraktivität antiker eudämonistischer Ethiken bestand gerade darin, daß sie eine Harmonisierung zwischen (diesseitigem) Glück und Moral zumindest versprachen, auch wenn manche ihrer anthropologischen Voraussetzungen heute eher zweifelhaft erscheinen.

Zweitens ist es unter moraltheoretischen Gesichtspunkten äußerst fragwürdig, ob eine moralphilosophische Position ohne eine inhaltliche Bestimmung des Begriffs des Guten auskommt, der nicht schon einen minimalen Begriff des guten Lebens und damit des menschlichen Glücks voraussetzt. "Jede Erläuterung der moralischen Rücksicht", so Martin Seel im vorliegenden Band, "muß Annahmen darüber einschließen, was in dieser Rücksicht berücksichtigt werden soll." Diese Rücksicht "bezieht sich auf die Möglichkeit des guten Lebens für alle die, die moralisch zu berücksichtigen sind. [...] Ein Begriff (zumindest) des guten menschlichen Lebens aber schließt eine Erörterung über das menschenmögliche Glück notwendigerweise mit ein". Während dieser Zusammenhang in der utilitaristischen Tradition selbstverständlich ist, glauben die an (den halben) Kant anknüpfende formalistische und die liberalistische Tradition, ohne einen inhaltlichen Begriff des Guten auskommen zu können. Moralphilosophie hat es diesen 'glücksabstinenten' Traditionen zufolge lediglich zu tun mit der Bestimmung formaler Voraussetzungen bzw. verfahrenstechnischer Regeln, die geeignet sind, diejenigen Bedingungen zu sichern, unter denen beliebige Ausformulierungen des Guten (konfliktfrei) getroffen werden können. Dabei wird unterstellt, daß die Verfahrensregeln (z.B. Regeln der Vertragsbildung oder moralischen Konsensfindung) und Bedingungen tatsächlich neutral gegenüber beliebigen inhaltlichen /10/ Bestimmungen des Guten sein können. Gerade dies aber hat Seel (1995, S. 241) als einen Trugschluß ausgewiesen. Wenn dies, wie ich meine, zutreffend ist, dann wären 'paternalistische Bevormundungen' eher in solchen moralphilosophischen Positionen zu vermuten, die ihre impliziten normativen Annahmen über das gute Leben einer expliziten Diskussion entziehen.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes entstammen überwiegend einer Vortragsreihe, die im akademischen Jahr 1996/97 am philosophischen Institut der Universität Karlsruhe unter dem Titel Glück und Ethik durchgeführt wurde. Die Vortragsreihe war konzipiert als Bestandsaufnahme der deutschsprachigen Philosophie der vergangenen 5-10 Jahre, in der aus verschiedenen Richtungen die Glücksthematik als Teilbereich der philosophischen Ethik bzw. praktischen Philosophie wieder eingeholt worden ist. [3] Gefragt war dabei auch eine kritische Überprüfung philosophiehistorischer Glückskonzeptionen hinsichtlich ihrer heutigen Tragfähigkeit, Ergänzungs- oder Revisionsbedürftigkeit. Außerdem sollte eine systematische Verortung der gegenwärtigen Glücksphilosophie innerhalb der philosophischen Ethik bzw. praktischen Philosophie erfolgen, wobei besonderes Augenmerk auf der Bestimmung des Verhältnisses zur Moralphilosophie lag.

Da sich viele Autoren gleich mehrerer Themen angenommen haben, ist die vorliegende Gruppierung der Beiträge zwar nicht zwingend, sie läßt sich aber anhand der jeweiligen Schwerpunktsetzungen plausibilisieren. So soll die folgende Darstellung nicht nur dazu dienen, die bisherigen Ergebnisse der Glücksphilosophie systematisch zu verorten, sondern auch die weiterreichenden thematischen Bezüge der Beiträge untereinander zu skizzieren.
 
 

2. Grenzen der Glücksphilosophie

2.1 Glücksbegriffe und Glücksverheißungen

Den einleitenden Part hat der 'Altmeister' der deutschsprachigen Glücksphilosophie, Günther Bien, übernommen. Sein Beitrag enthält im Kern eine dif-/11/ ferenzierte Analyse des Glücksbegriffs, die durch zahlreiche Beispiele aus Philosophie und Literatur veranschaulicht wird. Ausgehend von der Hauptunterscheidung zwischen Glück als äußerem Schicksal (fortuna) und Glück als seelischem Zustand (beatitudo) untersucht Bien die verschiedensten Glückskonzeptionen unter dem Leitgedanken der Verfügbarkeit des jeweiligen Glücks. Er gelangt dabei, in Übereinstimmung mit sowohl antiken philosophischen als auch modernen psychologischen Ergebnissen, zu einem Konzept der Lebenszufriedenheit, das eine Bejahung gerade der unverfügbaren Welt- und Selbstanteile umfaßt. Auch wenn sich ein solcher Zustand nach Bien einer direkten, allzu einfachen Verfügbarkeit entzieht, so ist doch ein Streben danach im Unterschied zu dem gänzlich Unverfügbaren nicht hoffnungslos. Biens Begriffsanalyse liefert damit nicht nur eine positive Glückskonzeption, sondern auch die Basis für eine Kritik aller leichtfertigen und allzu optimistisch erscheinender Glücksangebote, die vielmehr als Quelle des Unglücks erwiesen werden.

Diese - für manche pessimistisch erscheinende - Einsicht in eine Bescheidung des Glücksstrebens als Bedingung des Glücks findet sich in mehr oder weniger deutlicher Form bei fast allen philosophischen Autoren nicht nur dieses Bandes, so daß manche wie, z.B. Wilhelm Schmid, den Ausdruck 'Glück' wegen seiner allzu optimistischen Konnotationen eher meiden. Im Grundsatz der Bescheidung bzw. der Zweckökonomie, sich nur solche Zwecke zu setzen, die man auch erreichen kann (Hossenfelder), waren sich bei allen Differenzen schon Kyniker, Stoiker, Epikureer und Skeptiker einig. Die christliche Lehre, von Augustinus über Thomas von Aquin bis Kant, hat diese Bescheidung hingegen nur auf ein Streben nach diesseitigem Glück beschränkt wissen wollen, um dafür die Hoffnungen auf ein jenseitiges Glück um so euphorischer gestalten zu können. Es ist in erster Linie dem Mißbrauch einer moralpädagogischen Funktionalisierung zu verdanken, daß die philosophische Einsicht heute manchem leicht als anrüchig oder lustfeindlich erscheint. Und es sind insbesondere die (ersatz)erlösungsreligiösen Glücksverheißungen, gegen die sich die philosophische Einsicht einer prinzipiellen Bescheidung behaupten muß. Hinzu kommt, wie Malte Hossenfelder in seinem Beitrag aufzeigt, daß die Neuzeit (im Unterschied zur Antike - und auch zu Bien) die Natur als Verfügbarkeitsbereich für menschliche Glücksverwirklichung begriffen hat. Die damit aufs Diesseits rückgelenkten Glückshoffnungen haben sich jedoch heute nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus konsumsoziologischen und psychologischen Gründen als folgenreicher Irrtum erwiesen.

2.2 Das menschliche Maß

Daß sich die Einsicht in eine Bescheidung des Glücksstrebens auch ins Gegenteil verkehren kann, wenn der menschliche Maßstab aus dem Auge verlo- /12/ ren wird, das macht auf eindrückliche Weise die Studie von Gregor Paul deutlich. Hatte die Stoa die Einübung der Unempfänglichkeit und Gleichgültigkeit gegen jede Art von Gefühlen und Bedürfnissen empfohlen, so war der frühe Buddhismus noch eine Stufe weiter gegangen. Er empfahl den Glücksstrebenden mit einer einzigartigen gefühls-asketischen Radikalität, selbst die Empfindung der Gleichgültigkeit zu überwinden. So einsichtig das Erlösungsmotiv vor dem Hintergrund eines als unendlich postulierten Leidensprozesses einerseits erscheinen mag, so ist doch andererseits das versprochene (diesseitige) empfindungslose Nirvana-Heil nicht nur paradoxie-verdächtig; es bleibt vor allem auch für Menschen mit einer normalen Bedürfnisstruktur wohl prinzipiell unzugänglich. Die Geschichte der buddhistischen Glücksvorstellungen, die Paul in seiner Studie detailreich entwirft, ist denn auch von zahlreichen Aufweichungen, Korrumpierungen und dialektischen Umdeutungen der ursprünglichen Lehre gekennzeichnet. Und sie gipfelt schließlich in der sich dogmatisch verstehenden Rechtfertigung des buddhistisch-tantristischen Nirvanas in Gestalt des Orgasmus. Paul zieht daraus in systematischer Hinsicht Schlußfolgerungen: Normative Glückstheorien sollten sich nicht nur auf das menschlich Mögliche und Zumutbare beschränken und tolerant gegenüber individuellen Glücksentwürfen sein; sie sollten sich insbesondere auch freihalten von einseitigen moralischen und religiösen Funktionalisierungen.

Bemerkenswerterweise gelangt Annemarie Pieper in ihrem kritischen Durchgang durch die utopischen Glücksentwürfe des Abendlandes unter anderem zu ganz ähnlichen Einsichten. Sowohl die klassischen Utopien (Morus, Campanella, Bacon) als auch die modernen Anti-Utopien (Samjatin, Huxley) basieren auf einseitigen Festschreibungen des individuellen Glücks im Dienste einer Harmonisierung und Maximierung des Gemeinwohls. Während erstere das Glück in asketischen Tugendidealen verorten, setzen letztere auf Massenbefriedigung einer genormten oder gar manipulierten hedonistischen Bedürfnisstruktur. Beiden gelingt eine Harmonisierung gesellschaftsutopischer und individueller Glückskonzeptionen nur auf Kosten der individuellen Freiheit, die Pieper jedoch als unverzichtbare Bedingung des Glücks versteht. Der existentialistische Glücksentwurf (Camus) radikalisiert dagegen die individuelle Autonomie der Sinngebung zur hinreichenden Glücksbedingung; er scheitert jedoch an der Überforderung des Individuums. Im Unterschied zu diesen Extremen betont Pieper die Notwendigkeit utopischer Glückskonzepte, die eine produktive Vermittlung zwischen individuellen und kollektiven Glücksvorstellungen leisten. Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer solchen Gratwanderung "zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit" veranschaulicht sie an feministischen Utopien und Anti-Utopien (Perkins Gilman, Russ, LeGuin, Haushofer, Atwood, James). Anstelle von gesamtgesellschaftlichen Totalentwürfen plädiert sie für "Zukunftsentwürfe /13/ kleineren Zuschnitts", die uns auch zu einer kritischen Selbstvergewisserung unsere gegenwärtigen Glücksvorstellungen verhelfen können, für deren Konsequenzen wir verantwortlich sind.

Sowohl Paul als auch Pieper formulieren aus dem historischen Rückblick Warnungen vor allzu einseitigen und engen Festschreibungen des Glücks - Warnungen, denen eine zeitgenössische Glücksphilosophie Gehör schenken sollte. Denn: Die Freiheit zur Selbstbestimmung des eigenen Glücks ist zugleich auch eine allgemeine Bedingung dieses Glücks. Dieser paradoxal anmutende Satz kennt zwei Lesarten. Nach der pessimistischen Lesart ist eine Philosophie, der es um eine allgemeinverbindliche Bestimmung des Glücksbegriffs geht, wegen der notwendigen subjektiven Offenheit dieses Begriffs zum Scheitern verurteilt. [4] Inhaltliche Bestimmungen seien stets nur subjektive Ausmalungen, die eine Verbindlichkeit nur für den jeweils eigenen Lebensentwurf besitzen können, während sie für andere lediglich unterhaltsam oder informativ über die Befindlichkeit des Autors, bestenfalls anregend für die eigene Selbstreflexion sind. Das jedoch sei nicht Aufgabe der Philosophie, sondern die der Dichtung, der 'schönen' Literatur, wozu auch das Genre der utopischen Dichtung gehören mag. Mit Recht wenden sich alle Autoren dieses Bandes explizit oder implizit gegen die pessimistische Lesart, und sie verwahren sich damit auch, wie insbesondere bei Bien und Seel deutlich wird, gegen die Arbeitsteilung von Philosophie und Literatur. Denn nach der optimistischen Lesart formuliert der obige Satz mit der Freiheitsbedingung bereits eine erste positive inhaltliche Bestimmung des Glücksbegriffs, die es in einer Glücksphilosophie zu konkretisieren und um weitere Bestimmungen zu ergänzen gilt. Indem sich der Pessimist den Satz zueigen macht, nimmt er bereits eine glücksphilosophische Position ein und verwickelt sich so in einen pragmatischen Selbstwiderspruch. Selbst die nihilistische Leugnung des Glücks ist, wie Seel in Auseinandersetzung mit Bohrer deutlich macht, eine glücksphilosophische Position, die gerade wegen ihrer allgemeinen Annahmen über die menschliche Daseinsverfassung selber auch einer philosophischen Kritik ausgesetzt ist.

2.3 Die dreifache Subjektivität des Glücks

Der philosophische Optimismus bei der Formulierung von Bedingungen des Glücks läßt sich durch drei unterschiedliche Subjektivätsbedingtheiten eingrenzen, die zugleich bereits drei wichtige Ergebnisse der Glücksphilosophie /14/ zeitigen. Erstens ist von einer Pluralität menschlicher Grundverfassungen auszugehen: Was für den einen glücksfördernd ist, kann für den anderen eher hinderlich sein. Eine Glücksphilosophie muß daher entweder hinreichend abstrakt sein und begegnet damit u.U. der Gefahr, sich in Leerformeln zu verlieren; oder sie muß sich auf der Grundlage einer adäquaten Topik menschlicher Grundverfassungen und Lebensituationen differenzieren, wie es Hans Krämer in vorliegenden Entwurf seiner Strebensethik vorschlägt. Zweitens scheint, wie bereits erläutert, die subjektive Freiheit bei der Wahl der eigenen Glückskonzeption selber konstitutiv für das Glück zu sein. Eine normative Glücksphilosophie, die diese Bedingung ernst nimmt, kann daher gar keinen vorschreibenden, sondern allenfalls einen empfehlenden oder beratenden Charakter annehmen. Drittens schließlich enthält der Glücksbegriff, wie wir ihn heute verstehen, selber eine unaufgebbare subjektive Komponente: Man ist nur glücklich, wenn man sich auch selber glücklich fühlt. Glücklichsein ist eine subjektive Empfindung, für die eine Glücksphilosophie keine hinreichenden, sondern allenfalls notwendige objektive Bedingungen angeben kann. Hinzutreten muß stets noch eine subjektive Einstellung bzw. ein Sich-Verhalten zu diesen Bedingungen, das die meisten Autoren dieses Bandes mit einer auffällig einheitlichen aktivistischen Konnotation 'Bejahung' nennen. Der subjektive Glücksbegriff ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit, sondern erst eine Erfindung der griechischen Antike gegen die klassischen Positionen von Platon und Aristoteles, wie Malte Hossenfelder deutlich macht. Und er bedarf sogar noch heute in der Moralphilosophie einer philosophischen Rechtfertigung, wie Dieter Birnbacher am Beispiel des Begriffs der Lebensqualität in der medizinischen Ethik zeigt.

Nimmt man diese drei Subjektivitätskomponenten ernst, dann ist die Glücksphilosophie kein Unternehmen, das Menschen vorschreibt, unter welchen Bedingungen sie glücklich sein sollen; dann greift der Paternalismusvorwurf ins Leere, weil er, wie Seel nachweist, auf einem objektivistischen Mißverständnis der Ethik beruht. Begreift man weiterhin mit Seel Philosophieren als einen Weg, der vom Subjektiven zum Transsubjektiven durch schrittweises Abstrahieren der spezifischen Subjektrelativitäten fortschreitet, dann erscheint das Philosophieren sogar als Methode der Wahl, um über Bedingungen und Formen eines guten, gelingenden, zufriedenen oder glücklichen Lebens Aufschluß zu gewinnen.
 
 

3. Themenfelder der konstruktiven Glücksphilosophie

Glücksphilosophie bzw. eine Theorie des guten oder glücklichen Lebens läßt sich im Hinblick auf die Aufgabenstellung in drei verschiedene Themenfelder /15/ unterteilen, auf die die Autoren des vorliegenden Bandes jeweils unterschiedliches Schwergewicht legen.

3.1 Lebenskunstlehre

Glücksphilosophie kann erstens, worauf insbesondere Schmid und Krämer Wert legen, einen (anthropologisch und methodologisch fundierten) Orientierungsrahmen für unsere eigene Lebensführung entwickeln, der entweder allgemein gehalten (Schmid) oder nach menschlichen Lebens- und Problemlagen differenzierbar ist (Krämer). Ein solcher Orientierungsrahmen kann darüber hinaus auch die theoretische Grundlage für eine Lebensberatung sein (Krämer), wie sie etwa seit einigen Jahren in den Philosophischen Praxen versucht wird. In dieser existenziellen Hinsicht ist die Glücksphilosophie Lebenskunstlehre oder Strebensethik.

Wilhelm Schmid entwirft im Anschluß an Foucaults Spätphilosophie Eckwerte einer allgemeinen Lebenskunstlehre in Gestalt von Fähigkeiten bzw. Tugenden, um das eigene Leben bejahen zu können. Hierzu ist es zunächst notwendig, daß wir unser Leben als eigenes, selbstgestaltetes, auf Akten freier Wahl beruhendes Leben begreifen können. Damit die eigene Lebensgestaltung zwar frei aber nicht beliebig erfolgt, ist zweitens eine Sensibilität für innere und äußere Zusammenhänge zu entwickeln, wozu die volle Entfaltung sinnlicher und geistiger Fähigkeiten gehört. Drittens schließlich müssen wir zu uns ein Selbstverhältnis einnehmen können, das Schmid mit Foucault als irreduzibles ästhetisches Verhältnis bestimmt. Das eigene Leben zu bejahen heißt, es insgesamt aus der jeweiligen Lage heraus als schön zu empfinden. Lebenskunstlehre im Sinne einer Ästhetik der Existenz zielt daher darauf ab, das eigene Leben schön bzw. bejahenswert zu gestalten. Dabei legt Schmid Wert darauf, daß die ästhetische Bewertung nicht mit einer schlichten Lust/Unlustbilanz zu verwechseln ist, denn bejahenswert kann unter Umständen auch das Unangenehme, Schmerzhafte sein. Außerdem bleibt die ästhetische Perspektive nicht individualistisch beschränkt, denn auch die eigenen sozialen Lebensverhältnisse sind Gegenstand der existentiell-ästhetischen Bewertung und Gestaltung.

Während Schmid dem Pluralismus moderner Lebensentwürfe durch eine inhaltliche Offenheit der ästhetischen Perspektive begegnet, schlägt Hans Krämer den entgegengesetzen Weg der inhaltlichen Konkretisierung ein: "Die Strebensethik als philosophische Lebenskunstlehre ist ... in eine Pluralität von Lebenskunstformen und Lebenskunstlehren zu spezifieren". Eine allgemeine Strebensethik kann nach Krämer heute nur noch post-teleologisch entworfen werden; d.h., sie kann keine für alle verbindlichen positiven Lebensziele mehr formulieren, sondern allenfalls inhaltlich offene Regeln wie "Bevorzuge richtig" oder "Beachte die Grenzen deiner Möglichkeiten". Dadurch wird aber die praktische Philosophie gerade nicht mehr dem wachsen- /16/ den Bedarf an Lebens-, Orientierungs- und Entscheidungshilfe gerecht. Um dies zu leisten, muß eine spezielle Strebensethik sich ausdifferenzieren nach Lebens-, Problem- und Entscheidungslagen und eine Topik von Handlungszielen, -typen und Haltungen entwickeln. Die Strebensethik führt zu lebenspraktischen Kompetenzen, indem sie verschiedene Funktionen der natürlichen Praktischen Intelligenz reflexiv weiterentwickelt und ordnet: die Diagnose von Schwierigkeiten, die Analyse von Handlungsverkettungen, Risiken, Zielordnungen und Sinnzusammenhängen, die Heuristik der Lösungsversuche usw. Damit diese Kompetenzen auch tatsächlich wirksam werden, bedarf es schließlich einer Methodenlehre der Beratung, Vermittlung und Einübung. Krämers Entwurf der Strebensethik ist damit der konsequenteste Ansatz, die praktische Philosophie wieder anwendungspraktisch auszurichten und sie als Grundlage einer Beratungspraxis zu etablieren.

3.2 Prä-moralische Theorie des Guten

Neben dieser existentiellen Bedeutung kommt der Glücksphilosophie zweitens auch eine zentrale moraltheoretische Aufgabe zu, die insbesondere Seel und Birnbacher verfolgen. Denn ein Verständnis allgemeiner Bedingungen und Formen eines guten Lebens gibt uns nicht nur Aufschluß über unser eigenes Leben; es expliziert auch, was überhaupt in moralischer Hinsicht an anderen Lebewesen zu berücksichtigen und zu respektieren sein könnte. Für alle nicht-solipsistischen Moraltheorien (sowohl konsequentialistischer als auch deontologischer Prägung) [5] gilt daher, daß ihre Begriffe des moralisch Guten einen außermoralischen Begriff des Guten zumindest voraussetzen. Ein solcher Begriff des Guten bzw. des guten Lebens wird aber erst von der Glücksphilosophie bereitgestellt. Glückphilosophie in dieser moraltheoretischen Hinsicht ist daher prä-moralische Theorie des Guten.

Martin Seel entwickelt den Begriff des guten Lebens aus der Frage nach dem subjektiven Sinn des Lebens: Ein Leben ist für ein beliebiges Subjekt gut, wenn es als subjektiv sinnvoll erfahren wird. Ein Leben kann nach Seel nur in dem Maße als subjektiv sinnvoll erfahren werden, in dem sein Vollzug selbstzweckhaft ist bzw. in dem es um seiner selbst willen gelebt und bejaht wird. /17/ Oder negativ gewendet: Ein Leben wird subjektiv als sinnentleert erfahren, wenn sein Vollzug stets instrumentell auf anderes bezogen ist. Die Bejahung des eigenen Lebens setzt außerdem (ähnlich wie bei Schmid) voraus, daß wir uns zu unseren Lebenssituationen wertend verhalten können, indem wir manche meiden und andere suchen. Dies wiederum ist nur möglich, wenn uns ein äußerer Freiheitspielraum in der Begegnung mit unseren Lebenssituationen gegeben ist. Daraus gelangt Seel schließlich zur Bestimmung des guten Lebens als eines solchen, das sich im Modus freier Weltbegegnung vollzieht. Die moralische Rücksicht hat daher in erster Linie die für das gute Leben konstitutiven Freiheitsspielräume zu berücksichtigen, die analog auch für nicht-menschliche Lebewesen formulierbar sind.

Während Seel einen Begriff des guten Lebens als Grundlage einer allgemeinen Moraltheorie entwickelt, konzentriert sich Dieter Birnbacher auf den Bereich der medizinischen Ethik, wo der Begriff der Lebensqualität als normative Grundlage für Therapieentscheidungen herangezogen wird. Dabei ist bemerkenswert, daß die verschiedenen medizinethischen Lebensqualitätsmaße bisher mehr oder weniger einseitig an objektiven physiologischen Meßgrößen orientiert sind. Birnbacher argumentiert dagegen für einen konsequent subjektivistischen Lebensqualitätsbegriff, der ausschließlich die reflexive Bewertung des Patienten zur Grundlage hat. Das Prinzip der Bewertungssouveränität des Patienten verlangt, daß bei medizinischen Entscheidungen die Wertpräferenzen, Lebensgewohnheiten, Sensibiliäten und Anpassungsfähigkeiten jedes einzelnen Patienten individuell berücksichtigt werden müssen. Dabei wird der im engeren Sinne medizinische Bereich soweit transzendiert, daß ganz allgemeine glücksphilosophische Überlegungen zur Geltung kommen, wie sie etwa schon bei Schopenhauer vorliegen. Birnbacher warnt aber auch davor, den subjektivistischen Lebensqualitätsbegriff nicht nur deskriptiv, sondern auch evaluativ zur Beurteilung des Werts bzw. Unwerts eines Lebens zu verwenden, etwa bei Fragen der Verteilung medizinischer Ressourcen.

3.3 Glück und Moral

Das dritte und traditionell weiteste Themenfeld der Glücksphilosophie besteht in der Verhältnisbestimmung zwischen Glück und Moral.[6] Hierbei geht es um die Fragen, ob bzw. unter welchen Umständen und in welchem Aus- /18/ maße und Sinne strebensethische und moralische Normen und Motive deckungsgleich sein können. Die Positionen sind entsprechend kontrovers. Glücksphilosophie in dieser Hinsicht ist in der Regel Moralpsychologie oder Moralbegründung bzw. deren Kritik.

Auf der einen Seite stehen begründungstheoretische Versuche, Moralität als notwendige oder sogar auch hinreichende Bedingung des Glücks auszuweisen. Die Rückführung des moralischen Sollens auf ein strebensethisches Wollen besitzt dabei den Vorzug, der Moral eine hinreichende motivationale Basis in Gestalt eines aufgeklärten Eigeninteresses verleihen zu können - und dies, wohlgemerkt, ohne die Postulierung zusätzlicher sozialer (juristischer) oder religiöser Sanktionsinstanzen. Sowohl Forschner als auch Hossenfelder unternehmen diesen Versuch, allerdings aus ganz unterschiedlichen Ansätzen und Glücksbegriffen heraus.

Maximilian Forschner stützt sich dabei auf John Stuart Mills Utilitarismus und dessen qualitativ-hedonistische Wertlehre. Für den Utilitarismus steht zunächst außer Frage, daß Moralität keinen eigenen Wert begründet, sondern nur in einem funktionalen Verhältnis zum Glück steht: Moralisch richtig ist eine Handlung nur insoweit und in dem Maße, als sie das Glück ingesamt befördert. Da Mill mit Bentham den Glücksbegriff hedonistisch bestimmt, zielt moralisches Handeln also auf Vermehrung von Lust bzw. Verminderung von Unlust aller moralisch relevanten Subjekte. Die begründungstheoretische Frage lautet nun, ob moralisches Handeln in diesem Sinne zugleich eine notwendige Bedingung für die Maximierung des individuellen Glücks des Handelnden ist. Mills positive Antwort beruht auf einer Hierarchie qualitativ verschiedener Lustarten, die nach Handlungsintentionen und letztlich sogar nach menschlichen Fähigkeiten und Daseinsformen differenziert sind. In dieser - an Aristoteles und Thomas erinnernden Hierarchie - wird die höchste Lust bzw. das größte Glück erst in einer menschlichen Daseinsform erfahrbar, für die gerade die Überwindung der Egozentrik und die Entwicklung geistiger und moralischer Interessen kennzeichnend ist (ähnlich auch bei Bien und Schmid).

Malte Hossenfelder setzt dagegen bei seinem Versuch der Moralbegründung auf den aufgeklärten Egoismus. In Anknüpfung an hellenistische Positionen bestimmt er Glück als das subjektive Gefühl der Zufriedenheit, das sich einstellt, wenn alle frei gesetzten Zwecke erfüllt sind. Der Satz 'Alle Menschen streben nach Glück' wird damit analytisch wahr. Als eine notwendige Bedingung zur Erlangung des Glücks folgt außerdem, daß alle frei gesetzten Zwecke miteinander harmonieren müssen. Die Zweckharmonie erfordert daher nach dem Prinzip der Zweckökonomie eine freie Bescheidung auf solche Zwecke, die zugleich erfüllbar sind, ohne miteinander zu konfligieren. Was für die subjektiven Zwecke einer Person gilt, muß nach Hossenfelder auch für alle Zwecke aller Personen gelten: Sie müssen (entsprechend /19/ dem Kantschen Rechtsgrundsatz) nach allgemeinen Bedingungen miteinander harmonieren können. Glückstreben im Sinne eines aufgeklärten Egoismus impliziert dann die freie Bescheidung auf solche Zwecke, die mit den Zwecken aller anderen nach Grundsätzen der Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit harmonieren.

Auf der anderen Seite stehen Positionen, wonach moralisches Sollen und strebensethisches Wollen nicht nur tendenziell entgegengerichtet sind, sondern vor allem auch auf ganz disparaten Motivationsquellen beruhen. Auf der Grundlage dieser phänomenologischen Einsicht plädiert Krämer (im vorliegenden Band sowie ausführlich in Krämer 1992) für eine strikte Trennung von Strebensethik und Moralphilosophie, die er als zwei Teildisziplinen der Integrativen Ethik mit getrennten aber komplettierenden Aufgabenbereichen versteht. Eine solche Trennung ist aber auch, wie etwa bei Paul, durch die Skepsis genährt, daß alle Versuche einer Moralbegründung Gefahr laufen, den Glücksbegriff zu voreilig, zu vereinheitlichend und zu einseitig zu verengen.

Zwischen diesen extremen Positionen gibt es zahlreiche Versuche einer Vermittlung bzw. Harmonisierung von Glück und Moral, die nicht unbedingt ein strenges Bedingungs- bzw. Begründungsverhältnis implizieren. So findet sich bei vielen Autoren der (auf Epikur zurückgehende) Gedanke, daß ein philosophisch aufgeklärtes Glücksstreben schon alleine aus der Einsicht in die notwendige Bescheidung dieses Strebens (s.o.) zwangsläufig zu einer Minimierung zwischenmenschlicher Interessenkonflikte führt, mithin moralische Reglementierung zumindest ersetzt. Und Bien macht (im Anschluß an Goethe) darauf aufmerksam, daß das eigene Glück in der Regel eine Voraussetzung ist, um andere Menschen glücklich zu machen. Von daher wäre das Streben nach dem eigenen Glück sogar aus moralischen Gesichtspunkten zu empfehlen - falls sich das klassische Gegenargument, wonach sich der Glückliche in Selbstzufriedenheit eher moralisch indifferent verhalte, als begriffliches Mißverständnis erweisen läßt.[7]

Einflußreiche Harmonisierungsversuche wurden bereits in der moralpsychologisch orientierten Gefühlsethik der britischen Aufklärungphilosophie unternommen.[8] Diese (im nach-kantischen Deutschland eher vernachlässigte)[9] Tradition haben in jüngerer Zeit mehr oder weniger explizit Spaemann (1989) und Tugendhat (1993) aufgegriffen. Grundgedanke ist dabei die An- /20/ nahme originärer moralischer bzw. sozialer Affekte, die einerseits Beweggrund für moralisches Handeln sind und deren Befriedigung andererseits eine notwendige Bedingung menschlichen Glücks ist. Während die Annahme sozialer Affekte sicherlich plausibel ist, so scheint es doch ebenso plausibel, daß diese auf eine engere soziale Sphäre beschränkt bleiben. Nächstenliebe im eigentlichen Sinne kann daher nur eine Gruppenmoral bzw. eine ordo amoris (Spaemann 1989, 141ff.) begründen, d.h. eine moralische Bindung zu Personen in Abhängigkeit von ihrer sozialen Nähe. Dies ist jedoch noch keine Moral im philosophischen Sinne.[10] Denn der moralische Standpunkt impliziert die unparteiliche Berücksichtigung aller, unabhängig von ihrer sozialen Nähe oder Ferne. Tugendhat (1993, S. 282ff.) hat daher versucht, den moralischen Standpunkt als eine Tugend, d.h. als eine auf Dauer gestellte Haltung, zu begründen, indem er auf die Affekten- und Tugendlehre von Adam Smith rekurriert. Der Kerngedanke dabei ist, daß ein ausgewogenes Verhältnis der Tugenden der Selbstbeherrschung (der eigenen Affekte) und der Sensibilität (für die Affekte der Anderen) die Voraussetzung ist sowohl für ein gelingendes affektives Kommunizieren einerseits, als auch für die Einnahme des Standpunktes des unparteilichen Betrachters andererseits. Die Fähigkeit zur affektiven Kommunikation, wozu wir als Gemeinschaftswesen in gewisser Weise motiviert sind, impliziert demnach die Fähigkeit zur unparteilichen Betrachtung. Das bedeutet freilich noch nicht, wie auch Tugendhat zugesteht (1993, S. 309), daß der moralische Standpunkt als solcher damit schon eine ausreichende motivationale Basis besitzt.

Nimmt man den moralischen Standpunkt ernst, dann läßt sich daraus auch eine weitere Verknüpfung von Moral und Glück ableiten. Denn den moralischen Standpunkt einzunehmen, heißt nicht einfach, den Interessenstandpunkt anderer einzunehmen, sondern die Interessen aller - einschließlich meiner eigenen - aus einer neutralen, unparteilichen Perspektive zu berücksichtigen. Damit ist in einem schwachen Sinne gemeint, daß wir bei unseren moralischen Entscheidungen neben allen anderen auch uns selbst mitberücksichtigen dürfen (Seel 1995, S. 43f.). In einem starken Sinne liefert damit aber auch jede normative Moraltheorie Bewertungskriterien dafür, welche Ansprüche und Forderungen, die von anderen an uns herangetragen werden, überhaupt gerechtfertigt sind. Moral erfüllt eben auch eine, im Zuge des Moralpredigens leider immer wieder übersehene, wichtige Schutzfunktion vor pseudo-moralischen Ansprüchen, Gewissensinfiltrationen und nötigungen. Man muß nicht bis in die Psychopathologie der Ich- bzw. Selbststörungen /21/ gehen, um zu erkennen, welche elementare Bedeutung dieser Schutz für das psychische Wohlergehen jedes Einzelnen besitzt.
 
 

Anmerkungen

[1] Positiv hervorzuheben sind hier insbesondere Veenhovens (1984) zusammenfassende Auswertung von 245 (!) empirischen Einzelstudien sowie die auf mehr als 100 000 Interviews beruhende Studie von Csikszentmihalyi (1991). Inzwischen dürfte das ausufernde Material der empirischen Glücksforschung selbst von Spezialisten kaum mehr überschaubar sein. Das hält jedoch die Autoren des boomenden Bereichs psychologischer Glücks- bzw. 'Wellness'-Ratgeber nicht davon ab, ihre Rezepte immer knapper zu formulieren und bedürfnisgerecht anzupreisen. Andererseits sollen sich angeblich auch aus der Philosophiegeschichte (W. Hönes [Hrsg.], Was ist Glück ...?, Köln 1991) 1060 knappe Antworten extrahieren lassen. - Einen disziplinen-übergreifenden Ansatz der Glücksforschung verfolgt z.B. seit 1990 recht erfolgreich das deutsche Institut für Glücksforschung, Vallendar (vgl. z.B. Bellebaum 1992/94/97).

[2] Diese Problematik wird besonders deutlich, wenn man sich Kants jahrzehntelange Bemühung um Lösungen dieser Frage vergegenwärtigt, die m.E. alle äußerst unbefriedigend sind. Denn entweder verstrickt sich der Kantsche Wille in nur scheinbar "nicht-pathologische" Neigungen ("Selbstzufriedenheit", "Achtung vor dem Sittengesetz", "negatives Wohlwollen") oder in erlösungsreligiöse Motive ("Hoffnung auf eine der Moralität angemessene Glückseligkeit im Reich Gottes"). Neuere wohlwollende Rekonstruktionsversuche dieser in Vergessenheit geratenen Kantschen Glückstheorie sind: Forschner 1993 (Kap. V), Römpp 1994, Wilke 1994 sowie verschiedene Beiträge in Engstrom/Whiting 1996.

[3] Die letzte Bestandsaufnahme wurde von Günther Bien (1978) vor 20 Jahren vorgenommen. Der Vergleich macht deutlich, daß die Thematik damals in erster Linie philosophiehistorisch angegangen wurde. Einen systematischen Ansatz hat ebenfalls 1996 die Schweizerische Philosophische Gesellschaft unternommen mit einem Symposium zum Thema "Ist Glück lernbar? oder: Wieviel Philosophie braucht das Glück?" (vgl. Angehrn/Baertschi 1997, das mir leider bei Manuskriptabschluß noch nicht vorlag).

[4] Hier beruft man sich gerne auf Kants gelegentliche Äußerungen, wonach Glückseligkeit ein "schwankender", "unbestimmter Begriff" sei, dessen Elemente allesamt "empirisch" seien und der daher gar nicht zur praktischen Philosophie gehöre. Derselbe Kant bestimmt aber auch Moralität als apriorische intellektuelle Form des Glücks (vgl. Römpp 1994, S. 276).

[5] Eine Moraltheorie ist solipsistisch, wenn sie kein eigenes Prinzip der Rücksicht auf andere moralische Subjekte enthält, so daß ihre Handlungsnormen unabhängig davon ausfallen würden, ob andere moralischer Subjekte existieren oder nicht. Hierbei ist weniger an den ethischen Egoismus als an einen radikalen Kantianismus gedacht. Daß die theoretische Priorität des außermoralisch Guten kein Kennzeichen des Utilitarismus ist, wird deutlich an der herausgehobenen Rolle des Prinzips der Menschenwürde in den meisten deontologische Ethiken. Denn ohne eine inhaltliche Bestimmung dessen, was an Menschen moralisch zu berücksichtigen und zu respektieren ist, bleibt das Prinzip der Menschenwürde eine Leerformel.

[6] Zwei zu Unrecht vernachlässigte klassische Arbeiten, die dieses Verhältnis systematisch in verschiedene Richtungen ausloten sind Sidgwick 1909 (insbes. das Schlußkapitel) und Tatarkiewics 1976 (insbes. Kap. XXV: "The Right to, and the Duty of, Happiness"). Nicht berücksichtigt ist im folgenden das Verhältnis von Moral und Glück im Sinne von fortuna, wie es in jüngerer Zeit von B. Williams (Moral Luck, London 1981) neu thematisiert worden ist.

[7] Vgl. hierzu Tatarkiewicz' (1976, S. 349f.) Gegenüberstellung von Scheler und Simmel einerseits und LaRochefoucauld und Hölderlin andererseits.

[8] Zu erwähnen sind hier insbesondere R. Cumberland (1631-1718), Shaftesbury (1671-1713), Fr. Hutcheson (1694-1747), D. Hume (1711-1776) und A. Smith (1723-1790).

[9] Ausnahmen wären Schopenhauer sowie insbesondere der psychoanalytisch orientierte E. Fromm, auf den sich auch Tugendhat (1993, 14. Vorlesung) bezieht.

[10] Ähnlich argumentiert auch Seel (1995, S. 208f.), daß die für das eigene Glück notwendige Bedingung einer gegenseitige Anerkennung als Personen bereits durch eine "selektive", d.h. nur gelegentlich bzw. auf wenige beschränkte, moralische Einstellung erfüllt wird.
 
 

Literaturauswahl

Angehrn, E.; Baertschi, B. (Hrsg.): Die Philosophie und die Frage nach dem Glück, Bern u.a. (P. Haupt) 1997.

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Baurmann, M.; Kliemt, H. (Hrsg.): Glück und Moral. Arbeitstexte für den Unterricht, Stuttgart (Reclam) 1995.

Bellebaum, A. (Hrsg.): Glück und Zufriedenheit, Opladen (Westdeutscher Verlag) 1992.

Bellebaum, A. (Hrsg.): Vom guten Leben. Glücksvorstellungen in Hochkulturen, Berlin (Akademie) 1994.

Bellebaum, A., Barheier, K. (Hrsg.): Glücksvorstellungen. Ein Rückgriff in die Geschichte der Soziologie, Opladen (Westdeutscher Verlag) 1997.

Bien, G (Hrsg.): Die Frage nach dem Glück, Stuttgart-Bad Cannstadt (Frommann-Holzboog) 1978.

Birnbacher, D. (Hrsg.): Glück. Arbeitstexte für den Unterricht, Stuttgart (Reclam) 1993.

Carson, Th.L.; Moser, P.K. (Hrsg.): Morality and the Good Life, New York (Oxford Univ. Press) 1997.

Csikszentmihalyi, M.: Flow - Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart (Klett) 1991 (i.O: Flow. The psychology of optimal experience, New York u.a. 1990).

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Foot, Ph.: Virtues and Vices, Oxford (Blackwell) 1978.

Forschner, M.: Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant, Darmstadt (WBG) 1993.

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Hossenfelder, M.: Antike Glückslehren. Quellen in deutscher Übersetzung, Stuttgart (Kröner) 1996.

Krämer, H.: Integrative Ethik, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1992.

Marten, R.: Lebenskunst, München (Fink) 1993.

Nussbaum, M.C.: The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton (Princeton Univ. Press) 1994.

Römpp, G.: "Kant's Ethics as a Philosophy of Happiness: Reflections on the Reflexionen", The Modern Schoolman, 71 (1994), 271-284.

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Sidgwick, H.: Die Methoden der Ethik, Leipzig (W. Klinkhardt) 1909 (insbes.: IV. Buch, Schlußkapitel).

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Spaemann, R.: Glück und Wohlwollen, Stuttgart (Klett-Cotta) 1989.

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Tatarkiewicz, W.: Analysis of Happiness, The Hague (M. Nijhoff), Warszawa (Polish Scientific Publisher) 1976 (dt.: Über das Glück, Stuttgart (Klett-Cotta) 1984; das polnische Original wurde 1939-43 verfaßt und erschien zuerst als O szczesciu, Warszawa 1962).

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Wolf, U.: Die Suche nach dem guten Leben. Platons Frühdialoge, Reinbek (Rowohlt) 1996.


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